Krank

 

Und plötzlich wird jemand in der Familie krank. Und plötzlich ändert sich alles. Große Aufregung zu Anfang. Allen im Umfeld erklären, was passiert ist. Nein, keine Lebensgefahr. Ja, Hoffnung auf Besserung. Regelmäßige Besuche im Krankenhaus. Langsames Realisieren einer neuen Realität. Und dann, überraschend schnell, ein neues Eingewöhnen, Einpendeln. Die Notwendigkeiten, die Prämissen, die Routinen, die Arbeitsabläufe, die Gespräche, die Freizeit. Alles anders.

 

Aber ganz schnell findet eine Neuausrichtung statt, fast automatisch. Natürlich, beschwört man sich selbst, das muss jetzt so sein. Dann geht es auch. Und dann geht es (meistens) tatsächlich. Man findet sich schnell hinein in etwas, das man nicht oder kaum beeinflussen kann.

 

 

Zum Beispiel Abende, an denen ein Gegenüber fehlt, zum Beispiel Samstage, an denen die Nachbarn zu beiden Seiten Besuch haben, daran, viel weniger einzukaufen, auch daran, in der Küche statt im Esszimmer zu essen. Es dauert gefühlt ewig, bis die Spülmaschine voll ist, bis die Waschmaschine mal wieder laufen kann. Die Zahnpasta und das Toilettenpapier halten so merkwürdig lange, dafür muss der Frischkäse im Kühlschrank entsorgt werden, den man doch erst, wann eigentlich?, ist ja doch schon zehn Tage her, gekauft hat. Kochen für eine Person ist öde – hm, also Eintopf.

 

 

Nicht, dass erzwungenes temporäres Alleinleben nicht auch ein paar Vorteile hätte. Spül- und Waschmaschine seltener zu auszuräumen, schafft auch Freiräume. Für zwei Tage kochen ebenfalls. Radio und Fernseher werden nach eigenem Gusto ein- und ausgeschaltet, da ist keinerlei Kompromiss nötig. Telefonate kommen seltener ungelegen, Verabredungen sind unkomplizierter zu treffen, auch weil nicht vier, sondern meist nur zwei Personen zu koordinieren sind. Am Sonntagvormittag Yoga im Park? Aber gerne. Zum Feierabend eine kleine Online-Fortbildung? Kein Problem. Eine Freundin braucht Zuspruch und Trost? Ich übernehme.

 

 

Und doch ist es ein merkwürdiges Zwischenstadium, denn man hofft ja immerfort und überall auf Linderung, Besserung, Heilung für die kranke Person, man will sie wieder bei sich, um sich haben. Und bangt gleichzeitig, wie das sein wird. Am Telefon und während der Krankenbesuche werden Therapien erläutert, Geräte erklärt, Medikamente begutachtet. Man erhält Statusberichte, nimmt in Augenschein, sucht nach sichtbaren Erfolgen. Niedergeschlagenheit bei Rückschlägen und Komplikationen, große Freude bei ersichtlichen Fortschritten. Und die große Frage: Wie versehrt, wie geheilt, wie krank oder gesund wird der Mensch, der mir nahesteht, zurückkommen? Kann das alte Leben wieder aufgenommen werden? Oder beginnt tatsächlich, was hochtrabend ein neuer Lebensabschnitt genannt wird?

 

 

Diese Unsicherheiten, Schlaflosigkeit inbegriffen, gibt es gratis. Was Zeit und Kraft kostet, ist offen zu bleiben - für das, was kommt. Eine schwierige Übung, aber womöglich führt sie auf den richtigen Weg. Auch hilft es, sich helfen zu lassen, obwohl das ein zusätzlicher Akt der Überwindung ist. Krankheit kann vieles aufdecken, umkehren, gegen den Strich bürsten. Auf jeden Fall setzt sie etwas Neues in Gang.

 

 

 

 

 

 

 

 

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